Am 18. Juni 2025 hat die Große Beschwerdekammer (GBrK) des Europäischen Patentamts (EPA) ihre mit Spannung erwartete Entscheidung in der Sache G1/24 („Heated Aerosol“) getroffen – eine wegweisende Entscheidung, die die Auslegung von Patentansprüchen beim EPA neu regelt. Die GBrK entschied, dass Patentansprüche immer im Lichte der Beschreibung und der Zeichnungen auszulegen sind, nicht nur dann, wenn der Wortlaut des Anspruchs mehrdeutig oder unklar ist (Leitsatz, Randnummer 18.2). Dies bedeutet eine grundlegende Änderung der Praxis des EPA und bringt sie in Einklang mit der Anwendung von Artikel 69 EPÜ durch die meisten nationalen Gerichte in Europa – insbesondere durch das Einheitliche Patentgericht (EPG) und die deutschen Gerichte.
Entscheidend ist, dass die Kammer es als „äußerst unattraktiv“ (Begründung 16) erachtete, dass das EPA bewusst eine gegenteilige Praxis anwendet, und damit deutlich auf die Notwendigkeit einer Harmonisierung der Auslegung des europäischen Patentrechts hinwies.
Hintergrund: Von T 439/22 zu einem Paradigmenwechsel
Ausgelöst durch eine Vorlage der Technischen Kammer 3.2.01 (T 439/22) vom Juli 2024 befasste sich G1/24 mit der Frage, ob die Definition eines Anspruchsbegriffs in der Beschreibung des Patents (im konkreten Fall der Begriff „zusammengefasstes Flächengebilde“) die Auslegung des Anspruchs bestimmen kann, selbst wenn der Anspruch als solcher klar ist und eine andere Auslegung rechtfertigen würde. Die GBrK lehnte den restriktiveren „Claims-only”-Ansatz ab, der zuvor in Entscheidungen wie T 169/20 vertreten wurde, wonach ein Verweis auf die Beschreibung nur bei Mehrdeutigkeit eines Anspruchsbegriffs zulässig war. Stattdessen befürwortete die GBrK eine ganzheitliche, kontextbezogene Auslegung, die Rechtssicherheit und eine größere Einheitlichkeit in ganz Europa fördern soll.
Praktische Auswirkungen: Die Abstimmung von Beschreibung und Ansprüchen ist nun unerlässlich
„Die Entscheidung hat unmittelbare und weitreichende Folgen für Anmelder und Patentspezialisten“, sagt Dr. Hannah Jenke, Patentanwältin bei Cohausz & Florack:
- Ansprüche und Beschreibungen müssen bei der Ausarbeitung und Prüfung nun eng aufeinander abgestimmt werden.
- Prüfer könnten Ansprüche stärker hinterfragen und sie im Lichte der gesamten Beschreibung beurteilen.
- Einwendungen durch Dritte könnten zunehmen, da Unstimmigkeiten zwischen Ansprüchen und Beschreibungen genauer geprüft werden könnten.
- Änderungen der Beschreibungen – ein routinemäßiger Teil der Prüfung – erfordern nun noch mehr Sorgfalt. Eine mangelnde Übereinstimmung kann den Umfang der Ansprüche einschränken oder Einwände gemäß Artikel 123 (2) EPÜ wegen unzulässigen Erweiterungen auslösen, was die Erteilung oder Durchsetzung erschwert.
Die mündliche Verhandlung, die am 27. März 2025 stattfand, wurde live übertragen – was die öffentliche Bedeutung dieser Entscheidung und das Bestreben des EPA nach mehr Transparenz bei rechtlich bedeutsamen Entwicklungen unterstreicht.
Vergleichende Perspektive: EPA, EPG und deutsche Gerichte
- EPG: In Fällen wie NanoString gegen 10x Genomics hat das EPG bereits denselben Ansatz verfolgt wie nun das EPA in G1/24, d. h. es verlangt, dass die Beschreibung für die Auslegung der Ansprüche herangezogen wird, um einen einheitlichen Anspruchsbereich in allen Mitgliedstaaten zu gewährleisten.
- Deutsche Gerichte: Deutsche Richter stützen sich konsequent auf die Beschreibung, neigen jedoch dazu, den technischen Zweck der Erfindung gegenüber dem Wortlaut des Anspruchs zu betonen, was zu einer funktionsorientierten Anspruchsauslegung führt. Dies kann zu weiter gefassten Auslegungen führen, als sie nach dem textorientierten Ansatz des EPA üblicherweise akzeptiert werden.
„Trotz dieser Nuancen verbessert G1/24 die Vorhersehbarkeit und Kohärenz zwischen den Verfahren des EPA und anderen europäischen Gerichten, insbesondere dem EPG“, sagt Dr. Natalie Kirchhofer, Patentanwältin und Partnerin bei Cohausz & Florack. Dies ist ein wichtiger Schritt hin zu mehr Rechtsharmonisierung und Klarheit für Patentinhaber und Anmelder in der gesamten europäischen Patentlandschaft.