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  • Gottfried Schüll, Prof. Dr. Siegfried Broß

„Der moderne Rechtsstaat wird zur Farce“

Die Struktur des Europäischen Patentübereinkommens ist mit dem Grundgesetz in vielen Punkten unvereinbar, sagt Prof. Dr. Siegfried Broß, ehemaliger Richter am Bundesverfassungsgericht. Ein Gespräch über Hindernisse und Verfehlungen auf dem Weg zu einem Einheitlichen Patentgericht.

Immer wieder stoßen sich Experten in Diskussionen um das geplante Einheitliche Patentgericht (EPG) an Defiziten des Europäischen Patentübereinkommens (EPÜ). Können Sie diese Defizite bitte näher erläutern?

Um die Diskussionen verstehen zu können, hilft ein Blick auf die strukturellen Besonderheiten, die mit der Einrichtung des EPG einhergehen: Mit dem EPÜ sind die einzelnen Vertragsstaaten eine Staatenverbindung eingegangen. Dabei wurde aber nicht berücksichtigt, welchen Bindungen diese Länder ansonsten jeweils unterliegen – zum Beispiel als Vertragsstaat nach der Europäischen Menschenrechtskonvention, als EU-Mitgliedsstaat und nach innerstaatlichem Verfassungsrecht. Ein sehr oberflächliches Vorgehen, wenn Sie mich fragen: Denn es birgt die Gefahr, dass die Strukturen in der neuen Staatenverbindung zulasten von Demokratie, Rechtsstaatsprinzip und Menschenrechten gehen. Das betrifft auch die Ausgestaltung von Dienstverhältnissen: Bei einer Staatenverbindung wie der Europäischen Patentorganisation (EPO) mit Tausenden von Bediensteten und sehr differenzierten Strukturen muss die Arbeitswelt symmetrisch geregelt und ausgestaltet werden. Alle Mitgliedstaaten sind daher gefordert, ihre einzelnen Aufgaben rechtsstaatlich-demokratisch und unter Wahrung der Menschenrechte zu erfüllen. Nur so können sie den Maßstäben und Werten der EU langfristig gerecht werden. Insbesondere bei den Menschenrechten hat es jedoch auch auf EPO-Ebene schon viel Anlass zur Sorge gegeben.

Sie spielen auf die Vorgänge beim Europäischen Patentamt (EPA) und die anhängigen Verfassungsbeschwerden an?

Ganz genau. Bekanntermaßen ist es beim EPA, dem Exekutivorgan der EPO, in der Vergangenheit zu schweren Konflikten zwischen der Amtsführung, der EPA-Belegschaft und der Gewerkschaft SUEPO gekommen. Noch im Oktober 2017 hat der Vorsitzende des Verwaltungsrats von äußerst bedrückenden menschlichen Schicksalen gesprochen und die Hoffnung geäußert, dass diese unter dem neuen Präsidenten António Campinos nicht mehr auftreten. Das macht deutlich, welch große rechtsstaatlich-demokratischen Defizite schon innerhalb des EPA aufgetreten sind, dass Menschenrechte missachtet wurden und dass der Verwaltungsrat als Aufsichtsorgan versagt hat. Diese Verfehlungen sind erschütternd – und werfen ein schlechtes Licht auf das Regelwerk des EPÜ und die Organisationsstruktur der EPO. Dazu haben auch die von den Vertragsstaaten gewählte Organisationsstruktur und ihre Flucht aus rechtsstaatlich-demokratischen Bindungen beigetragen. Es hat sich gewissermaßen eine Parallelwelt im Völkerrecht entwickelt, die uns Sorgen machen sollte: Rechtsstaat, Demokratie und Menschenrechte werden hierdurch gefährdet. Das führt schon so weit, dass sich auch Unternehmen in Staaten, in denen sie produzieren lassen, nicht für die Beachtung der Menschenrechte verantwortlich fühlen.

Wie steht es mit der Organisationsstruktur des EPA?

Auch hier lassen sich deutliche Defizite erkennen: So ist die Verwaltungsspitze des EPA zugleich auch die Spitze der Teilorganisation innerhalb des EPA für die Spruchkörper. Der Präsident ist letztlich der „Aufseher“ über die Spruchkörper und ihre Mitglieder. Es fehlt also an einer institutionellen Verselbständigung der Spruchkörper mit eigenem Haushalt, eigener Rechtspersönlichkeit und einer unabhängigen eigenständigen Leitung. Exekutive und Judikative sind demnach nicht voneinander getrennt. Genau diese Trennung aber ist ein Kernmerkmal des modernen Rechtsstaates und im Sinne des EPÜ eine Grundvoraussetzung für fairen Rechtsschutz. Der Rechtsstaat wird so zur Farce!

Wie lassen sich die erwähnten Defizite wirkungsvoll beheben?

Bei einer Stattgabe sollte das Bundesverfassungsgericht Hinweise darauf geben, wie die beanstandeten gesetzlichen Grundlagen, einschließlich des EPÜ, zu fassen sind. Nur so kann auf europäischer und Völkerrechtsebene wieder für Rechtsfrieden gesorgt werden. Hier sehe ich auch die Bundesrepublik Deutschland als Vertragsstaat in der Pflicht, sich für eine Änderung des EPÜ stark zu machen und dafür zu sorgen, dass die Spruchkörper aus dem EPA herausgelöst und als selbstständige Institutionen eingesetzt werden.

Welche weiteren rechtsstaatlichen Probleme sehen Sie in der Struktur des EPG?

Ich sehe vor allem das Problem der Verweisung. Ein Beispiel: Artikel 140 des Grundgesetzes legt die Kirchenartikel der Weimarer Reichsverfassung in der vormals geltenden Fassung zugrunde. Mit dem damaligen Untergang des Verfassungsgebers kann eine Änderung nicht mehr vorgenommen werden – das heißt, es liegt eine statische Verweisung vor. Sie ist transparent und in den Willen des gegenwärtigen Verfassungsgebers so aufgenommen. Anders verhält es sich mit der Einbeziehung von Normengeflechten, die in der Zukunft nicht festgelegt, sondern für Veränderungen offen sind – so auch das EPÜ und die Dispositionsmöglichkeiten für die Organe der EPO. Auch wenn 27 Staaten der EU Mitglied der EPO sind, besitzt diese eine eigene Staatlichkeit und genießt Immunität. Das Verwaltungsverfahren des EPGs in Bezug auf eine Patentanmeldung folgt also keinen unveränderlichen Regeln. Mangels Identität der Mitgliedstaaten der EU mit der Gesamtheit der Mitgliedstaaten der EPO ist diese als dynamische Verweisung zu qualifizieren. Damit ergibt sich ein Strukturmangel, der das gesamte Vorhaben EPG in sich zusammenfallen lassen könnte.

 

Das Interview führte Gottfried Schüll.  

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